09. Dezember 2024

Der wunde Punkt

von Mensch zu Mensch

Ich habe diese Baumstämme vor Augen,
alle mit einem schönen inneren Kern,
symmetrische Ringe zu Beginn,
frohen Mutes, im Einklang mit ihrer Aufgabe,
in den Himmel zu wachsen.
Dann beginnen Abweichungen:
Statt rund werden die Ringe oval,
hier zeigen sich Ausbuchtungen,
dort Störungslinien.
Was mag passiert sein?
Äußere Einflüsse, Wind,
Wetter, Licht, kleine Lebewesen?
Parallelen zu meinem Leben 
kommen mir in den Sinn.
Der wunde Punkt schießt es mir in den Kopf,
den jeder Mensch in sich trägt,
sich mehr oder weniger gut arrangiert.
Manche haben ihn vergraben, 
vergessen, was früher plagte,
plötzlich, ein unvorhergesehenes Ereignis,
da steht er vor uns,
wie ein unerwarteter,
nun ungebetener Gast.
Wie sie hier liegen,
Schulter an Schulter,
ihr Innerstes geöffnet, alles sichtbar,
Lebenslinien in der Schönheit ihrer Asymmetrie,
mit rotem Punkt gestempelt!

Ein Hinweis auf den Fehler,
den wunden Punkt, das Makel?
Rote Kennzeichnungen ziehen Blicke an,
bei Rot bleibt man stehen,
erhält den Hinweis:
„Da haben wir noch Bedarf, daran müssen wir arbeiten.“
Manchmal suche ich auch
nach dem roten Faden,
der mich leitet,
dann schiebe ich den Gedanken weg,
wähle mal blauen, grünen Faden aus,
das geht mir leicht von der Hand,
dass ich denke, es gibt nichts, 
was mir nicht gelingt.
Doch in solchen Momenten voller Leichtigkeit
spüre ich gleichermaßen,
das Zarte, das Zerbrechliche,
die Fragilität unserer Seelenwelt.
So schnell kann sich alles wandeln,
wie ein Sturm, der plötzlich naht,
dunkle Wolken vor die Sonne schiebt,
in Windeseile eben, dann
in unser kreisrundes Jahr eine Delle treibt
oder diesen wunden Punkt zum Vorschien bringt!

Vielleicht ist es die Kunst,
diesen wunden Punkt nicht zu verstecken,
sondern ihn als Kapital zu verstehen,
als Mitgift des Lebens,
ein kleines Schmuckstück,
zerbrechlich und doch kostbar,
weil es unser Innerstes öffnet,
ein Schlüssel zu neuen Welten,
zu Talenten, die noch schlummern,
ganz tief drinnen in ihrem Versteck.
In der Auseinandersetzung mit unseren Wunden
könnte sich die Möglichkeit zur Heilung entfalten.
Gemeinsam erfahren wir,
dass Verletzlichkeit nicht Schwäche ist,
sondern eine Quelle der Stärke,
die uns verbindet und reifen lässt.
Was verbindet mehr als die Schwäche,
die jemand eingesteht?
Dann fühlen wir den anderen als Menschen,
einen Menschen mit Schwächen und Ängsten,
fühlen uns nicht mehr ausgeschlossen,
sondern spüren die Stärke,
die es braucht, um Verletzlichkeit zu zeigen.
 
Der wunde Punkt,
meine Spiegelung,
Zeichen der Übereinstimmung,
von Mensch zu Mensch,
Ausdruck von Menschlichkeit.
Diese Verletzlichkeit, 
nicht nur Schwäche,
sondern Quelle der Stärke.

Die Achillesferse der Seele,
eine Kraft,
die alles entfesselt,
Mauern bröckeln und
Grenzen fallen lässt.

Der Schlüssel zur Veränderung.
Sei bereit!

© Manuela Engel-Dahan
Mut- und Lebensberaterin für Angstbewältigung
Begleiterin zur inneren Stärke und Lebensfreude




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